Flucht, Vertreibung, Versöhnung: Atelier Brückner gestaltet Dokumentationszentrum

In Berlin, unweit des Regierungsviertels und direkt gegenüber der Ruine des Anhalter Bahnhofs, wird am 23. Juni das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung eröffnet. Die Architektur des Deutschlandhauses wurde saniert und architektonisch ergänzt von Marte.Marte Architekten. Die Ausstellungsgestaltung stammt von Atelier Brückner.

aDokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Fotos: Michael Jungblut)

Die Ausstellung zeigt im ersten Obergeschoss „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen“ und im zweiten Obergeschoss „Flucht und Vertreibung der Deutschen“. Beide Bereiche unterscheiden sich in der räumlichen Bildsprache. Verbindend, über die Etagen hinweg, ist eine durchgehende Gestaltung der Grafik und der digitalen Medien sowie die integrative Erschließung aller Bereiche und Inhalte. Hierzu zählen ein Leitsystem für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen, taktile Orientierungsmodelle, Ausstellungsobjekte, die mit mehreren Sinnen erfahrbar sind, eine Audiotour in sechs Sprachen und Erklärfilme, die einen Überblick und Einstieg in die einzelnen Unterthemen der Ausstellung bieten. Texte in leichter Sprache und Deutscher Gebärdensprache begleiten sie. Die Filme, entwickelt von Space Interactive, überzeugen mit stark reduzierten grafischen Animationen. Sie korrespondieren mit der abstrahierten Ausstellungsgestaltung.

Eine große Treppe führt die Gäste des Dokumentationszentrums vom Erdgeschoss ins erste Obergeschoss. Dort begrüßt sie das Forum, ein Ort der Begegnung und Kommunikation. Er lädt ein, sich selbst einzubringen. Jeder Gast kann die eigene Fluchtgeschichte digital hinterlegen und schriftlich auf Fragen antworten, die im Raum stehen: „Was ich nicht zurücklassen würde…“, „Heimat bedeutet für mich…“, „Worüber wir mehr sprechen sollten…“.

Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Fotos: Michael Jungblut)

Die Ausstellung „Eine europäische Geschichte der Zwangsmigrationen“ versteht sich als Einführung und Überblick vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in unsere Zeit. Ursachen von Zwangsmigration, Phänomene und Diskurse werden anschaulich. Sechs raumbildendende Ausstellungselemente prägen und strukturieren den weitläufigen, stützenlosen Ausstellungsbereich. Sie bestehen aus modularen, filigranen Rahmen, die thematisch unterschiedlich ausgestaltet sind.

Das zweite Obergeschoss blickt auf Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Drei raumbildende Kuben setzen optische Akzente und strukturieren den Parcours inhaltlich wie chronologisch. Der Zugang erfolgt über den Ausstellungkubus „Deutsche Expansionspolitik und Zweiter Weltkrieg“. Der begleitende Erklärfilm spricht über die Machtergreifung, den Vernichtungskrieg, den systematischen Massenmord an Jüdinnen und Juden sowie über die Umsiedlungen und Umsiedlungspläne, die mit deutschen Aktionen verbunden waren. Die ausgestellten Objekte befinden sich in Vitrinenschubladen. Werden jene geöffnet treten Hitlers „Mein Kampf“ und das Diagramm „Die Jüdische Auswanderung aus der Ostmark“ als animierte Großprojektionen in den Raum. Sie erhalten übermächtig erdrückenden Ausdruck.

Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Fotos: Michael Jungblut)

Der zweite Kubus „Neuordnung durch Vertreibungen“ ist als Transit-Pavillon gestaltet. Er bietet einen Überblick über Grenz- und Menschen-Verschiebungen, die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg auf Beschluss der Alliierten umgesetzt wurden. Im Zentrum, auf einer quadratischen, bodennahen Projektionsfläche, sind diese visualisiert. Mehrere Millionen Deutsche waren von Vertreibung und Zwangsaussiedlung betroffen. Die Wände des Pavillons zeigen Fotos von Fluchtsituationen, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind.

Der dritte Pavillon ist dem neuen Zuhause gewidmet. Er ist offen gestaltet und ermöglicht Ausblicke. Provisorische Gegenstände des häuslichen Bedarfs, darunter eine Gardine aus einem Fischernetz oder ein Kinderbett, ordnen sich, gleichsam von oben hereinschwebend, im Raum an. Dazwischen finden Suchplakate ihren Platz. Der Verbleib unzähliger Menschen ist bis heute ungeklärt.

Der Besucher durchschreitet die Zeit von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart, begleitet von langgezogenen Ausstellungsdisplays, die den Weg flankieren. Das letzte Kapitel ist der öffentlichen und privaten Erinnerungskultur gewidmet.

Prägend für das Ausstellungserlebnis sind menschliche Silhouetten, die den gesamten Raum umstellen. Die lebensgroßen Grafiken erscheinen unscharf und entrückt hinter den Displays. Ein emotionaler Zugang zu den Menschen und ihren tiefgreifenden, verlustreichen Erfahrungen entsteht über die Exponate. Das Tagebuch der Charlotte Schmolei spricht beispielsweise von Hunger, schwerer Arbeit und Gewalt, die die junge Frau in ihrer Heimat Ostpreußen erlebte. Sobald der Besucher die Geschichten am Audioguide aufruft, startet eine Projektion: Die grauen Schatten erhalten Gesichtszüge von Menschen, die auf historischen Fotografien überliefert sind. Ein lebendiges Erinnerungsbild entsteht.

Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Fotos: Michael Jungblut)

Den Epilog der Ausstellung bildet eine digitale Bildkollage, die kontinuierlich erweitert und ergänzt wird. Sie spiegelt regionale Erinnerungskultur in Mittel- und Osteuropa – einen Prozess, der zu Verständigung und Versöhnung führen kann.

Träger des Dokumentationszentrums ist die Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Sie wurde im Jahr 2008 vom Deutschen Bundestag unter dem Dach des Deutschen Historischen Museums in Berlin gegründet. Das Dokumentationszentrum versteht sich als ein Ort historischer Bildung und lebendiger Debatten im Geiste der Versöhnung.

Info: www.atelier-brueckner.com

Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Fotos: Michael Jungblut)