Abschlussbericht zum Provenienzforschungs-Projekt „Schwieriges Erbe“

Die Eberhard Karls Universität Tübingen und das Linden-Museum Stuttgart untersuchten unter dem Titel „Schwieriges Erbe“ in einem zweijährigen Forschungsprojekt von April 2016 bis März 2018 den museologischen und wissenschaftlichen Umgang mit kolonialzeitlichen Objekten in ethnologischen Museen. Im Rahmen des Projekts, das Pilotcharakter hatte, wurde eine Stelle zur Provenienzforschung von kolonialzeitlichen Objekten eingerichtet. Für 18 Monate konzentrierte sich dieser am Linden-Museum Stuttgart angesiedelte Projektteil auf die Untersuchung von ausgewählten Objektbeständen aus ehemaligen deutschen Kolonialgebieten in Afrika und Ozeanien. Ziel war es, einen systematischen Forschungsansatz für die Provenienzforschung zu kolonialzeitlichen Objekten mit Modellcharakter für ethnologische Museen zu entwickeln.

„Bei der wichtigen Aufgabe, die koloniale Vergangenheit unserer Sammlungen aufzuarbeiten, stehen wir noch am Anfang. Der vorgestellte Abschlussbericht leistet hier einen wertvollen Beitrag, auf den wir aufbauen werden. Allen Beteiligten danke ich für ihren Einsatz“, sagte Kunstministerin Theresia Bauer. Initiatoren des Projekts waren Prof. Dr. Gabriele Alex (Asien-Orient-Institut der Universität Tübingen), Prof. Dr. Inés de Castro (Linden-Museum Stuttgart) und Prof. Dr. Thomas Thiemeyer (Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaften der Universität Tübingen). Die Finanzierung erfolgte im Rahmen der Exzellenzinitiative der Universität Tübingen durch die Plattform 4 „Bildung – Gesellschaft – Normen – Ethische Reflexion“.

Die drei von der Provenienzforscherin Gesa Grimme untersuchten Regionalbestände des Linden-Museums umfassen zusammen etwa 25.300 Inventareinträge: Davon entfallen 16.500 auf Objekte aus Kamerun, 6.600 auf den Bestand aus dem Bismarck-Archipel (Papua-Neuguinea) und 2.200 Objekte auf den Namibia-Bestand. Sie verteilen sich auf 640 einzelne Konvolute von Objekten, die dem Museum seit Begründung der Sammlung 1884 durch den „Württembergischen Verein für Handelsgeographie und Förderung deutscher Interessen im Ausland“ von 314 Personen und Institutionen überlassen wurden.

Die Analyse der Bestände belegt ihre Verwobenheit mit der deutschen Kolonialgeschichte und dem europäischen Kolonialismus: 91 Prozent (rund 23.200 Objekte) wurden zwischen 1884 und 1920, als das Deutsche Reich in Afrika, Asien und Ozeanien aktiv als Kolonialmacht auftrat, in die Sammlung des Vereins aufgenommen. Bis zum Ende der deutschen Kolonialzeit hatten sich bereits 206 Personen und Institutionen an ihrem Aufbau beteiligt. Die biografischen Hintergründe der Objektgeber verweisen ebenfalls auf die große Bedeutung kolonialer Strukturen: So gelangten etwa 35 Prozent der untersuchten Objekte über Personen an das Museum, die entweder Angehörige der in den Kolonien eingesetzten Militäreinheiten – den „Schutztruppen“ – oder der Marine waren. Knapp 21 Prozent wurden ihm von Angestellten, Eigentümern und Anteilseignern von Unternehmen überlassen, die sich kolonialwirtschaftlich betätigten. Weitere 18 Prozent erhielt das Museum über Angehörige der Kolonialverwaltung, die entweder direkt in den Kolonien eingesetzt waren oder ihren Dienst im Inland versahen. Aufenthalte in den deutschen Kolonialgebieten lassen sich bisher für 131 der 206 bis 1920 aktiven Objektgeber belegen.

Ein für alle drei untersuchten Regionalbestände wichtiger Sammlungseingang der Kategorie „Ethnographica-Handel und -Tausch“ war der Ankauf von Objekten aus dem Bestand des Kolonialmuseums in Berlin 1917, das aus der „Ersten Deutschen Kolonialausstellung“ von 1896 hervorgegangen war und das Interesse der Bevölkerung an den Kolonien fördern sollte. Das Museum, das ab 1900 von der Deutschen Kolonialgesellschaft betrieben wurde, musste 1915 wegen Zahlungsschwierigkeiten schließen. Unter den 3.300 angekauften Objekten befanden sich 480 Ausstellungsstücke für den Kamerun-Bestand, 80 für den Bestand zu Namibia und 320 Objekte für den Bestand zum Bismarck-Archipel. Die Korrespondenz und die Sammlungsdokumentation, die sich noch im Linden-Museum befinden, enthalten kaum Angaben zu Herkunft und möglichen Vorbesitzern.

Die erarbeiteten Sammlungsprofile zeigen die Abhängigkeit der Bestandsentwicklung von den Strukturen der deutschen Kolonialherrschaft in Afrika und Ozeanien auf. Alle drei Teilbestände belegen zudem die herausragende Bedeutung von Angehörigen des Militärs, Angestellten der Kolonialverwaltung und kolonialwirtschaftlichen Akteuren für ihre Entstehung. Deutlich wird, dass die Unterschiede in der kolonialen Inbesitznahme der Gebiete sich auch in den Strukturen der untersuchten Museumsbestände nachvollziehen lassen: So zeichnet die Entwicklung des Kamerun-Bestands die Ausweitung des deutschen Einflussgebiets durch die sukzessive militärische Besetzung des Kameruner Binnenlands nach. Auf den Charakter „Deutsch-Südwestafrikas“ als Siedlungskolonie verweist die zwischen 1920 und 1950 vergleichsweise hoch bleibende Zahl der Sammlungseingänge für den Namibia-Bestand. Zugleich steht hier mindestens eine Sammlung in direktem Zusammenhang mit dem Kolonialkrieg gegen die Herero und Nama. Die Zusammensetzung des Bestands zum Bismarck-Archipel verweist auf die größere Bedeutung von Forschungsreisen bei der kolonialen Aneignung der Region sowie auf die Abwesenheit einer dauerhaften Militärpräsenz.

Dem Verantwortlichen – Karl von Linden – wäre es ohne entsprechende Rahmenbedingungen kaum möglich gewesen, innerhalb von zwei Jahrzehnten derart umfangreiche Sammlungsbestände zusammenzustellen. Ohne die Etablierung des deutschen Kolonialreichs am Ende des 19. Jahrhundert, ohne den Auf- und Ausbau kolonialer Verwaltungs- und Wirtschaftsstrukturen und ohne jene Personen, die dies vor Ort umsetzten und sich zugleich als Sammler für die europäischen Museen betätigten, sowie ohne das gesellschaftliche und politische Interesse dieser Zeit an der Völkerkunde wäre dies nicht zu realisieren gewesen. Aktiv nutzte er koloniale Strukturen und das Interesse an der kolonialen Expansion für die Etablierung eines völkerkundlichen Museums in Stuttgart und den Aufbau der zugehörigen Sammlung, aus der 1911 das heutige Linden-Museum hervorging.

Die im Projekt „Schwieriges Erbe“ geleistete Arbeit liefert zahlreiche Anknüpfungspunkte für weiterführende Forschungsprojekte zur kolonialen Vergangenheit des Linden-Museums und ihrer Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft des Museums. Provenienzforschung zu Objekten und Sammlungen aus kolonialen Kontexten dient neben der Klärung von Erwerbsumständen auch der Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Dinge, die sich heute in den ethnologischen Museen befinden, nach Europa gelangten. Indem sie die Verflechtungen zwischen kolonisierten und kolonialisierenden Gesellschaften, zwischen kolonialer Vergangenheit und globalisierter Gegenwart thematisiert, erlaubt sie, vergangene und gegenwärtige Praktiken der Museen und der ihnen zugrundeliegenden Ordnungsprinzipien zu hinterfragen.

Das Linden-Museum Stuttgart setzt seit 15. Oktober 2018 die Provenienzforschung zu kolonialzeitlichen Objekten fort. Finanziert aus Mitteln der Kulturstiftung des Bundes wird sich Markus Himmelsbach in den kommenden drei Jahren vertiefend mit den Beständen des Museums befassen. Im Sinne des „Leitfadens zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten“ des Deutschen Museumsbundes wird in diesem Projekt Kolonialismus nicht auf die Phase der deutschen Kolonialgeschichte beschränkt.

Zusätzlich wird – finanziert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst sowie aus Eigenmitteln – Christoph Rippe ab 1. Dezember 2018 für zwei Jahre zur Provenienz des Namibia-Bestandes des Linden-Museums forschen.

Der Abschlussbericht zur Provenienzforschung im Rahmen des Projekts „Schwieriges Erbe“ ist abrufbar unter: https://www.lindenmuseum.de/service-menue/presse/schwieriges-erbe/